Schon lange hatten Marc Siegle und ich eine Woche in den Schweizer Alpen geplant. Unser Ziel? Dem König der Alpen – dem Alpensteinbock – mit der Kamera auf die Spur zu kommen. Die Vorfreude war seit Monaten gross, und die Aussicht auf eine Woche in der Schweizer Bergwildnis, nur mit dem Nötigsten und jeder Menge Fotoequipment, hielt uns motiviert.
Bis ein Tag vor Abfahrt war allerdings unklar, welche Region der Schweiz wir genau erkunden würden. Nachdem wir die Wetterprognosen gründlich studiert hatten, fiel die Wahl auf die Ostschweiz: den Alpstein und Graubünden.
Am Ende verbrachten wir 2 Nächte im Alpstein und 2 Nächte in Graubünden. In dieser Woche legten wir stolze 61 Kilometer, knapp 100.000 Schritte und über 3200 Höhenmeter zurück – mit 23 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken, bestehend aus Kameraequipment, Essen, Schlafsack, Matte und Biwak oder Zelt.
Tag 1
Um 16:00 Uhr startete unsere Tour. Wir trafen uns am Fusse unserer ersten Destination und nahmen die letzte Bahn hinauf zum Gipfel. Oben angekommen, deponierten wir unsere schweren Rucksäcke und machten uns – bewaffnet mit Kamera – auf die Suche nach der Steinbockkolonie. Wir durchkämmten den Hang und spähten in die Täler, aber die Steinböcke blieben unentdeckt.
Plötzlich ein Pfeifen! Das muss ein Steinbock gewesen sein! Tatsächlich entdeckten wir ein paar Weibchen mit Jungtieren in einem felsigen Kessel, doch sie waren scheu und schwer zu fotografieren. Eine Stunde später entdeckten wir ein einzelnes Männchen tief unten in einem Tal, aber es war leider zu weit entfernt, um es vor Sonnenuntergang zu erreichen. Also beschlossen wir, die Suche aufzugeben und den Sonnenuntergang mit einem Dinner aus Couscous, Gurke, Peperoni, Sbrinz und viel zu wenig Salz zu geniessen. Lecker, aber das nächste Mal packen wir mehr Gewürze ein!
Tag 2
Der Wecker klingelte um 05:00 Uhr. Schnell räumten wir unseren Schlafplatz auf und machten uns in der Dämmerung erneut auf die Suche nach den Steinböcken. Und siehe da, nach nur 20 Minuten entdeckten wir die ersten friedlich grasend zur Goldenen Stunde. Immer mehr gesellten sich zu uns, bis schliesslich eine ganze Herde vor uns stand.
Nach einem guten Kaffee und Frühstück widmeten wir uns der Flora des Berges und deren tierischen Mitbewohnern.
Den restlichen Tag nutzten wir zum Lesen und Bilder bearbeiten. Als die letzten Tagestouristen den Berg verliessen und das Licht wieder weicher wurde, gingen wir erneut auf Steinbocksuche. Diesmal hatten wir Glück: Wir begleiteten die Herde bis in eine Wiese voller Silberdisteln und Wolfs-Eisenhut, der – wie wir erst später erfuhren – die giftigste Pflanze Europas ist. Nur schon blosse Berührung kann zu Vergiftung führen – und wir knieten uns mitten hinein, um die perfekten Aufnahmen zu machen! Glücklicherweise überlebten wir dieses Missgeschick ohne Symptome…
Was für ein Abend! Steinböcke im schönsten Licht in einer malerischen Wiese, ein 360° Alpenpanorama – und fast hätten wir uns noch selbst vergiftet. Abenteuer pur!
Tag 3
Völlig übermüdet standen wir wieder um 05:00 auf. Insgeheim hatten wir beide auf schlechtes Wetter gehofft, um etwas Schlaf nachzuholen. Doch der klare Morgen trieb uns abermals aus unseren Schlafsäcken. Auf Grund des Gewitters am Vorabend waren die Steinböcke abends wieder ins Tal gezogen, daher gab es am Morgen keine Fotos. Der Sonnenaufgang entschädigte uns jedoch mit einem spektakulären Himmel.
Nachdem wir unseren Schlafplatz aufgeräumt hatten, ging es mit der ersten Bahn ins Tal und weiter mit Bus und Zug zu unserer zweiten Destination: Graubünden. Nach einer 3,5-stündigen Fahrt und einer 20-minütigen Bergbahnfahrt erreichten wir schließlich das Steinbock-Gebiet. Jetzt stand nur noch eine knapp zwei-stündige, zum Teil regnerische, Wanderung mit 300 Höhenmeter vor uns.
Nach einem frühen Abendessen an einem Lej (rätoromanisch für See) packten wir unsere Kameras und wanderten weitere 250 Höhenmeter in Richtung Fuorcla. Kaum waren wir auf der Anhöhe angekommen, erblickten wir sie: einen Teil der grössten Steinbockkolonie der Schweiz, bestehend aus etwa 20 männlichen Tieren unterschiedlichen Alters, inmitten der Steinwüste.
Plötzlich hörten wir in der Ferne, wie weitere Steine von den Felsen herabrollten. Ganz oben auf dem Grat erkannten wir nur als Silhouetten eine Muttergeiss, die mit ihrem Kitz entlang der Krete rannte.
Da das Wetter nicht besser werden wollte, entschieden wir uns für einen frühen Abstieg und einen gemütlichen Abend im Schlafsack. Zumindest hatte ich das geplant:
Eine ruhige Nacht unter dem Sternenhimmel, eingekuschelt in Schlaf- & Biwaksack. Doch daraus wurde nichts:
Mitten in der Nacht ein Ruck, ein Zupfen an meiner Mütze – ich schlage die Augen auf, doch mein nächtlicher Dieb ist blitzschnell und lässt mich nur verwirrt zurück. Dann höre ich ein verdächtiges Knacken, als ob jemand auf eine PET-Flasche tritt. Jetzt bin ich hellwach.
Ich schrecke hoch und leuchte mit meiner Taschenlampe um mich. Da! – Ein pelziger, grauer Rücken huscht davon und hinterlässt mich in meiner kleinen Biwak-Oase mit klopfendem Herzen und einer guten Portion Adrenalin. Der Morgen bringt dann die Gewissheit: Wir hatten tatsächlich einen nächtlichen Besucher. Eine PET-Flasche liegt zerkaut am Tatort, die andere hat sich mit der Socke von Marc verbündet und ist gute 10 Meter geflüchtet. Die Krönung? Bei genauerer Untersuchung stellt sich heraus: der Schuldige war nicht etwa ein Fuchs oder Murmeltier, sondern ein Dachs, der frech genug war, bei uns herumzuwühlen.
Mein ersehnter Schlaf? Gestohlen. Socke und wertvolle Trinkflaschen? Entführt & zum Teil zerstört. Unser Respekt für Dachse? Unermesslich gestiegen. So viel zum Thema die Alpen seien Erholung!
Tag 4
Der Tag mit der meisten Bewegung: gute 33.000 Schritte, 20 Kilometer und 1500 Höhenmeter. Nach unserem nächtlichen Erlebnis ging es trotzdem früh 200 Höhenmeter hoch in Richtung Fuorcla, in der Hoffnung, die Steinböcke wiederzufinden. Das Alpenglühen am Morgen war atemberaubend, und für die ersten Stunden mutierten wir zu Landschaftsfotografen – die Steinböcke liessen sich nämlich Zeit. Doch auf dem Rückweg zu unserem Schlafplatz liefen wir buchstäblich den Steinböcken über den Weg. Einer war besonders zutraulich und posierte perfekt vor dem Alpenpanorama. Wir verbrachten eine weitere Stunde mit diesem fünfjährigen Bock, bevor wir schliesslich zurück zum Lej gingen, als das Licht zu hart wurde.
Nach unserem späten Frühstück entdeckten wir plötzlich etwas Kleines, Braunes im Bachbett herumspringen: ein Hermelin! Natürlich packten wir sofort unsere Kameras aus – Marc eindeutig schneller als ich. Ich selbst war nicht ganz so flink, wie der Hermlin: Ich legte einen spektakulären Sturz hin. Glücklicherweise hatte ich die Kamera noch nicht in der Hand und konnte mich noch rechtzeitig abfangen – zwei sehr blaue Knie gab es trotzdem.
Am frühen Nachmittag packten wir unsere Sachen und wanderten zu unserem nächsten Schlafplatz: zuerst mussten wir 150 Höhenmeter runter, um dann wieder 150 Höhenmeter hochzusteigen. Am neuen Ort bot sich ein wunderschöner Blick auf den Gletscher. Mit diesem Ausblick kochten wir unser improvisiertes Mittagessen – uns war kurz davor aufgefallen, dass wir bei der Vorbereitung eine Mahlzeit vergessen hatten. Glücklicherweise hatten wir noch genug Reis und Trockensauce vom Vortag übrig. Allerdings wäre "Reis natur" definitiv die bessere Wahl gewesen, denn kaum nach dem Essen lief mein Gesicht knallrot an und machte einer Tomate Konkurrenz. Aber nichts, was ein Antihistamin nicht lösen könnte. Zwei Stunden später hatte mein Gesicht wieder seine normale Hautfarbe.
Am späten Nachmittag wanderten wir weitere 750 Höhenmeter hoch zur Fuorcla. Diesmal gingen wir bis ganz nach oben. Der Ausblick auf weitere Lejs, Berggipfel und eine männliche Steinbockherde waren der Lohn für den langen Aufstieg. Einfach fantastisch, was das Bündnerland alles zu bieten hat!
Als die Wolken sich lichteten, machten wir uns auf den Weg zurück zu den Steinböcken, die wir zuvor gesehen hatten. Die ganze Herde war relativ entspannt. Wir konnten näher an die Herde heran als normal. Zudem posierten sie für uns perfekt vor dem Bergpanorama, während die Sonne unterging. Was für ein Abend! Wir fotografierten sicherlich 30 Minuten lang einen einzelnen jungen männlichen Steinbock im schönsten Licht. Unglaublich, wie viel Glück wir hatten!
Erst spät, nach Einbruch der Dämmerung, wanderten wir begeistert und müde zurück zu unserem Schlafplatz. Doch ans Schlafen war noch nicht zu denken, denn als nächstes wollten wir die Milchstrasse fotografieren. Leider hatte der Mond andere Pläne: Zu hell und zu hoch am Himmel verdeckten er und einige Wolken die Milchstrasse fast vollständig. Doch wir machten das Beste aus der Situation und fotografierten die beleuchtete Bergkulisse auf der anderen Seite. Always look on the bright side of life!
Tag 5
Der letzte Morgen begann wolkenverhangen, aber die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich dennoch durch. Eine halbe Stunde später sah es schon etwas besser aus: Der Himmel zeigte erste Strukturen und rötliche Farben. Nach einigen Fotos und Zeitraffer-Videos entschieden wir uns, früher ins Tal zurückzukehren und dort zu frühstücken. Der tägliche Haferbrei und Kaffee aus der PET-Flasche (was für ein Stilbruch!) hatten langsam ihren Reiz verloren.
Zurück bei der Bahnstation nahmen wir die Bergbahn ins Tal und steuerten direkt den Coop an, um uns mit Kaffee und Gipfeli zu stärken. Anschließend genossen wir unser Essen am Flussufer. Den Tag rundeten wir mit einer entspannten Zugfahrt ab – durch das malerische Bündnerland zurück nach Hause
Was für eine Woche voller unvergesslicher Begegnungen, Erlebnisse und Abenteuer in den Ostschweizer Alpen! 5 intensive Tage in der Natur mit seinen Bewohnern, in denen wir nicht nur wunderschöne Bilder, sondern auch unvergessliche Erinnerungen sammeln konnten. Ich kann es kaum erwarten, diese Tour bald zu wiederholen – vielleicht sogar noch zu verlängern!